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Montag, 27.02.2023 | Person: Thomas Brinkmann
Das LSG Niedersachsen-Bremen hat mit Urteil vom 13.09.2022 – L 16 KR 421/21 – darauf verwiesen, dass dem Wunsch- und Wahlrecht eines behinderten Menschen bei der Auswahl der Hilfsmittel volle Wirkung zu verschaffen ist. Die Leistung muss dem Leistungsberechtigten viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung der Lebensumstände lassen und die Selbstbestimmung fördern.
Der bei der Beklagten krankenversicherte Kläger war bislang aufgrund seiner Querschnittslähmung mit einem Aktivrollstuhl nebst mechanischen Zuggerät (Handbike) versorgt. Wegen nachlassender Kräfte verordnete der behandelnde Orthopäde einen Rollstuhlzuggerät Husk-E mit E-Unterstützung. Die von dem Kläger beantragte Leistung wurde von der beklagten Krankenversicherung mit der Begründung abgelehnt, dass es sich hierbei um eine nicht notwendige Überversorgung handeln würde, weil die Basismobilität auch mit einem rein elektrischen Hilfsmittel gesichert werden könne.
Die gegen den ablehnenden Bescheid und Widerspruchsbescheid erhobene Klage wurde von dem Sozialgericht Oldenburg abgewiesen mit der Begründung, dass die begehrte Versorgung das Maß des Notwendigen überschreiten würde, sodass eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankversicherung nicht gegeben sei. Die hiergegen eingelegte Berufung wurde vom Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen stattgegeben. Das beantragte Hilfsmittel würde keine Überversorgung darstellen.
Das LSG hat die beklagte Krankenkasse zur Kostenübernahme verurteilt. Ein querschnittsgelähmter Versicherter könne nicht gegen seinen Willen auf einen rein passiven Elektrorollstuhl zur Erschließung des Nahbereichs verwiesen werden, wenn er lediglich eine elektrische Unterstützung benötige. Das beantragte Hilfsmittel würde keine Überversorgung darstellen, da eine ausschließlich passive Fortbewegungsmöglichkeit keine adäquate Alternative darstellen würde. Menschen mit Behinderung soll es ermöglicht werden, soweit wie möglich ein selbstbestimmtes und selbständiges Leben zu führen. Der Anspruch auf ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich ist somit nicht von vornherein auf die Minimalversorgung beschränkt, sondern ein Anspruch komme bereits in Betracht, wenn das Hilfsmittel wesentlich dazu beitragen oder zumindest maßgebliche Erleichterungen bringen würde, Versicherten den Nahbereich der Wohnung (z.B. bei Einkäufen oder Arzt- und Apothekenbesuchen) und elementare Freizeitwege in zumutbarer Weise zu erschließen. Der von der Beklagten vorgeschlagene E-Rollstuhl sei funktionell nicht in gleicher Weise geeignet, wie das von dem Kläger begehrte Hilfsmittel. Die Leistung müsse dem Berechtigten viel Raum zur eigenverantwortlichen Gestaltung der Lebensumstände lassen und die Selbstbestimmung fördern.
Die Rechtsprechung des LSG steht im Einklang mit der neueren Rechtsprechung des BSG auf der Grundlage der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschluss vom 30.01.2020 – 2 BvR 1005/18 –), wonach es Menschen mit Behinderungen ermöglicht werden soll, soweit wie möglich ein selbstbestimmtes und selbständiges Leben zu führen. Nach der neueren Rechtsprechung des BSG auf der Grundlage der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kommt es entscheidend auf den Umfang der mit dem begehrten Hilfsmittel zu erreichenden Gebrauchsvorteile im Hinblick auf das zu befriedigende Grundbedürfnisse an, ohne dass hierfür maßgeblich die Unterscheidung zwischen unmittelbaren und mittelbaren Behinderungsausgleich heranzuziehen wäre. Eine Überversorgung liegt nicht vor, wenn das Hilfsmittel neben der Erschließung des Nahbereichs auch Freizeitinteressen dienen kann.
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