Mittwoch, 13.10.2021

Geltung der Mindesthonorarsätze und der EuGH
Die Schlussanträge des Generalanwalts: HOAI-Mindestsätze voraussichtlich auch zwischen Privaten nicht anwendbar!

Ein Beitrag von Lionel Patting
 
Einleitung
Um die Vorgaben des „HOAI-Urteils“ des EuGH vom 04.07.2019 (C-377/17), mit welchem der EuGH verbindliche Mindest- und Höchstsätze der HOAI für unionsrechtswidrig erklärt hatte, umzusetzen, hat der deutsche Gesetzgeber die Regelungen zum Honorar von Ingenieur- und Architektenleistungen teils reformiert, wonach keine Mindes- und Höchstsätze mehr vorgesehen sind. Stattdessen sollen Honorartafeln nunmehr Orientierungswerte darstellen, wobei die Honorarwerte Honorarspannen vom Basishonorarsatz bis zum oberen Honorarsatz – gegliedert nach Honorarzonen – bilden.
 
Daraufhin entwickelte sich ein ausufernder Streit in Literatur und Rechtsprechung, wie sich das Urteil des EuGH auf laufende Verfahren, also bspw. Mindestsatzklageverfahren zwischen Privaten auswirke.
 
Das OLG Celle, das OLG Dresden und das OLG Düsseldorf haben dahin entschieden, dass die Entscheidung des EuGH unmittelbare Wirkung entfalte, der Mindestpreischarakter der HOAI also in laufenden Rechtsstreitigkeiten nicht (mehr) zu berücksichtigen sei und Klagen von Architekten, mit denen ein über das vereinbarte Honorar hinausgehendes Mindesthonorar entsprechend der HOAI geltend gemacht werde, somit abzuweisen seien.
 
Das OLG Hamm und das Kammergericht Berlin vertraten eine andere Auffassung: Danach führe die Entscheidung des EuGH nur dazu, dass der deutsche Gesetzgeber aufgerufen sei, den Europarechtsverstoß durch die Schaffung neuer Regeln zu beenden. Bis dahin bleibe es aber bei den bestehenden Regeln, mithin auch beim Mindestpreischarakter der HOAI, so dass die Architekten weiterhin zusätzliches Honorar verlangen könnten, soweit das vereinbarte Honorar hinter dem Mindesthonorar der HOAI zurückbleibe.
 
Diese Frage war und ist deshalb so umstritten, weil der EuGH ausdrücklich lediglich einen Verstoß gegen eine Richtlinie und nicht – jedenfalls nicht ausdrücklich – einen Verstoß gegen eine Verordnung oder sonstige Grundsätze des Unionsrechts oder eine der Grundfreiheiten festgestellt hat. Der Unterschied besteht in der Rangordnung der jeweiligen Normen, wobei zu beachten ist, dass eine Richtlinie einem Mitgliedstaat „lediglich“ vorschreibt, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, dem Mitgliedstaat dabei aber die Wahl der Form und der Mittel lässt, wohingegen eine Verordnung in allen ihren Teilen „verbindlich“ ist und unmittelbare Geltung entfaltet.
 
Die entscheidende Frage ist, ob sich eine Vertragspartei auf eine Regelung berufen kann, wenn die Unionsrechtswidrigkeit durch den EuGH explizit ausgesprochen wurde.
 
Dem EuGH liegt im Verfahren Rs. C-261/20 die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob § 15 Abs. 1, Abs. 2 lit. g und Abs. 3 der Dienstleistungsrichtlinie im Rahmen des laufenden Gerichtsverfahrens zwischen Privatpersonen in der Weise unmittelbare Wirkung entfaltet, dass die – nach der Entscheidung des Gerichtshofs – dieser Richtlinie entgegenstehenden nationalen Regelungen in § 7 HOAI 2013 über verbindliche Mindestsätze auf den Vertrag der Parteien nicht mehr anzuwenden seien.
 
Die Frage ist deshalb von besonderer praktischer Relevanz, weil der EuGH in seiner Rechtsprechung bisher nur anerkannt hat, dass sich Einzelne in bestimmten Fällen (bspw. bei fehlender oder unzureichender Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht) gegenüber Mitgliedstaaten (sozusagen „vertikal“) auf die unmittelbare Wirkung von Richtlinien berufen können, sofern die Richtlinienbestimmung inhaltlich unbedingt ist und hinreichend genau formuliert ist. Bisher galt dies aber nicht auch für Beziehungen zwischen Privaten (sozusagen „horizontal“).
 
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann eine Richtlinie nämlich nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen, so dass im Rahmen privater Rechtsverhältnisse Einzelnen gegenüber, ein Berufen auf die Richtlinie als solche nicht möglich sei.
 
Diese Spruchpraxis wird damit begründet, dass anderenfalls der Europäischen Union die Befugnis eingeräumt würde, auch über eine „bloße“ Richtlinie mit unmittelbarer Wirkung zulasten Einzelner Verpflichtungen anzuordnen. Das ist zunächst auch naheliegend, ist der Europäischen Union eine unmittelbare Einwirkung doch nur dort gestattet, wo ihr ausdrücklich die Befugnis zum Erlass von Verordnungen zugewiesen ist, die im Gegensatz zu Richtlinien nicht mehr in nationales Recht umgesetzt werden müssen, sondern eigenständig bereits unmittelbare Geltung entfalten.

Eine Entscheidung des EuGH (Rs. C-261/20) liegt noch nicht vor, allerdings liegen nunmehr die Schlussanträge des Generalanwalts vor, die bereits einen Ausblick auf die mögliche Entscheidung des EuGH bieten. Das noch zu erwartende Urteil des EuGH wird jedenfalls von bedeutender praktischer Relevanz sein, weil es die Wirkung unionsrechtlicher Akte im nationalen Recht und die Auswirkung seiner eigenen Entscheidungen definieren wird.
 
Der Generalanwalt kommt zu dem Ergebnis, ein nationales Gericht, das mit einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen über einen Anspruch befasst sei, müsse diese nationale Regelung unangewendet lassen. Das folge einerseits aus Art. 15 Abs. 2 Buchst. g und Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 als Bestimmungen zur Konkretisierung der Niederlassungsfreiheit und andererseits aus Art. 16 GRCh.
 
 
Schlussanträge des Generalanwalts
 
Auswirkung von Richtlinien auf Rechtslage eines Dritten
 
Zunächst bestätigt der Generalanwalt Maciej Szpunar noch einmal den Grundsatz des Ausschlusses der unmittelbaren horizontalen Wirkung von Richtlinien, betont allerdings, dass dieser Grundsatz nicht bedeute, dass die Richtlinie keine Berücksichtigung finden könne und sich nicht mittelbar auf die Rechtslage eines Dritten auswirken könne.
 
In diesem Zusammenhang führt der Generalanwalt „eine Reihe von Situationen, in denen eine solche Berücksichtigung (habe) erfolgen“ können (Rn. 24).
 
Erstens seien nationale Gerichte grundsätzlich verpflichtet, das nationale Recht richtlinienkonform auszulegen (sogenannte konforme Auslegung).
 
Zweitens sei auf dem Gebiet technischer Vorschriften unmittelbare Wirkung von Richtlinienbestimmungen anerkannt. Denn die Verletzung der Notifizierung technischer Normen durch den Mitgliedstaat könne zur Folge haben, dass die unter Verstoß gegen diese Verpflichtungen erlassenen nationalen technischen Vorschriften in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen unanwendbar seien.
 
Drittens müsse ein nationales Gericht, das mit einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen befasst sei, in jenen Fällen, in denen eine richtlinienkonforme Auslegung nicht möglich sei, eine der Richtlinie entgegenstehende nationale Bestimmung unangewendet lassen, wenn dies zur Wahrung eines allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts – einschließlich eines in der Charta der Grundrechte der EU normierten Grundsatzes – erforderlich sei.
 
Viertens sei es möglich, dass eine Richtlinie in einer „Dreieckssituation“ geltend gemacht werden könne, d. h. wenn die Folgen eines Rechtsstreits, der eine Richtlinie betrifft und auf vertikaler Ebene zwischen einer Privatperson und einem Staat geführt werde, sich auf die Rechtslage eines Dritten auswirkt.
 
 
„Wesen der Richtlinie 2006/123 als Instrument zur Konkretisierung der Grundfreiheit des Binnenmarkts“
 
Zentrales Argument des Generalanwalts stellt das „Wesen der Richtlinie 2006/123 als Instrument zur Konkretisierung der Grundfreiheit des Binnenmarkts“ dar.
 
Sehe man sich das Kapitel III der Richtlinie 2006/123 näher an, sei festzustellen, dass dies die Niederlassungsfreiheit des Art. 49 AEUV in Bezug auf fast alle Dienstleistungstätigkeiten konkretisiere, was im Ergebnis die Richtlinie 2006/123 von anderen sekundärrechtlichen Vorschriften erheblich unterscheide, die lediglich ausgewählte und in der Regel enge Aspekte der Niederlassungsfreiheit in einem bestimmten Sektor harmonisieren.
 
Der Generalanwalt verweist insoweit auf aus seiner Sicht zentrale Entscheidungen des EuGH, nämlich insbesondere auf die Rechtssache „Urteil X und Visser“ (EuGH, Urt. v. 30. 01. 2018 – Rs. C-360/15 und C-31/16 (X und Visser)). Daraus ergebe sich, dass Kapitel III der Richtlinie 2006/123 nicht nur die im Vertrag verankerte Niederlassungsfreiheit konkretisiere, sondern auch die Grenzen ihrer Anwendung auf rein innerstaatliche Angelegenheiten ausdehne. Es solle daher zulässig sein, sich in einem Rechtsstreit gegen eine Privatperson auf die Bestimmungen dieses Kapitels zu berufen, wie es zulässig sei, sich in ähnlichen Situationen unmittelbar auf die Niederlassungsfreiheit des Vertrags zu berufen (Rn. 45).
 
Schließlich stellt der Generalwalt fest, er sei der Ansicht, dass ein nationales Gericht eine nationale Regelung, die Mindestsätze für Dienstleistungserbringer in einer Weise festlegt, die gegen Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. g und Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 verstößt, unangewendet lassen müsse, wenn es mit einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen über einen Anspruch befasst sei, der auf diese Regelung gestützt ist, und eine unionsrechtskonforme Auslegung nicht möglich sei.
Diese Verpflichtung obliege dem nationalen Gericht gemäß Art. 15 Abs. 2 Buchst. g und Abs. 3 der Richtlinie 2006/123/EG, bei denen es sich um Bestimmungen zur Konkretisierung der in Art. 49 AEUV verankerten Niederlassungsfreiheit handelt.
 
 
Berufung auf allgemeine Grundsätze des Unionsrechts, einschließlich der Vertragsfreiheit aus Art. 16 GRCh
 
Der Generalanwalt meint weiter, die streitige Bestimmung sei nicht anzuwenden, weil sie gegen die in Art. 16 der Charta garantierte Vertragsfreiheit verstoße. Diese Freiheit schließe die Freiheit der Parteien ein, den Preis einer Leistung festzusetzen. Sie werde durch eine Bestimmung des nationalen Rechts beschränkt, die verbindliche Mindestsätze für bestimmte Dienstleistungen vorsehe. In Anbetracht der Unverhältnismäßigkeit der gesetzlichen Beschränkung dieser Freiheit sollte die streitige Bestimmung des deutschen Rechts, die gegen Art. 16 der Charta verstoße, vom nationalen Gericht außer Acht gelassen werden.
 
So habe der Gerichtshof festgestellt, dass es Gründe gebe, die Anwendung nationaler Rechtsvorschriften, die den Bestimmungen der Richtlinie 2000/78/EG des Rates(41) entgegenstehen, zu verweigern, soweit dies […] erforderlich ist (Rn. 67).  
 
Wesentlich sei, dass es im vorliegenden Fall im Wesentlichen nicht um die unmittelbare horizontale Wirkung einer Bestimmung der Charta im klassischen Sinne gehe. Die Frage sei also nicht, ob eine Bestimmung der Charta einer der Vertragsparteien unmittelbar Verpflichtungen auferlege, sondern ob in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen die Anwendung einer Bestimmung des nationalen Rechts mit der Begründung ausgeschlossen werden könne, dass sie mit einer Bestimmung der Charta, in diesem Fall ihrem Art. 16, unvereinbar sei.
 
Generalanwalt Szpunar befürwortet Unanwendbarkeit
 
Zusammenfassend schlägt der Generalanwalt dem Gerichtshof vor, die vom BGH vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:
 
Ein nationales Gericht, das mit einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen über einen Anspruch befasst ist, der auf eine nationale Regelung gestützt ist, die Mindestsätze für Dienstleistungserbringer in einer Weise festlegt, die gegen Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. g und Abs. 3 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt verstößt, muss diese nationale Regelung unangewendet lassen.