Dienstag, 14.02.2023

EuGH bestätigt Erhalt von Urlaubsansprüchen Langzeiterkrankter

Ein Beitrag von Thomas Brinkmann

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 22.09.2022 über drei Vorabentscheidungsersuchen des Bundesarbeitsgerichts (BAG) entschieden.
 
In den zuvor miteinander verbundenen Rechtssachen C-518/20 und C-727/20 hat der EugH darauf erkannt, dass es zwar grundsätzlich zulässig ist, dass Urlaubsansprüche im deutschen Recht nach 15 Monaten durchgehender krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit verfallen können, das aber jedenfalls für das Urlaubsjahr, in dem der betroffene Arbeitnehmer teilweise noch erwerbstätig und (nur) zum Teil krankheitsbedingt arbeitsunfähig oder erwerbsgemindert war, nur dann gelten kann, wenn der Arbeitgeber Arbeitnehmer rechtzeitig auf seinen Urlaub hingewiesen und zur Inanspruchnahme seines Urlaubs aufgefordert hat.
 
In der Rechtssache C-120/21 hat der EuGH zudem entscheiden, dass der Arbeitgeber zwar ein berechtigtes Interesse daran hat, nicht mit Anträgen auf Urlaub oder finanzielle Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub konfrontiert werden zu müssen, die auf mehr als drei Jahre vor Antragstellung erworbene Ansprüche gestützt werden, dieses Interesse indes dann nicht gerechtfertigt ist, wenn der Arbeitgeber sich selbst dadurch, dass er den Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt hat, den Anspruch tatsächlich wahrzunehmen, d. h. ihn auf seinen Anspruch und auf dessen Verfall nicht hingewiesen hat.
 
 
Sachverhalt
 
Dem Urteil des EuGH in den Rechtsachen C-518/20 und C-727/20 lagen folgende Fälle zugrunde:
 
Das Verfahren C-518/20 betraf einen Arbeitnehmer, der seit 2000 bei seinem Arbeitgeber beschäftigt war, aber infolge einer schweren Behinderung seit Dezember 2014 Rente wegen voller Erwerbsminderungssrente auf Zeit bezog, die zuletzt bis zum 31.08.2022 verlängert wurde. Er erhob Klage auf Feststellung, dass ihm 34 Tage bezahlter Jahresurlaub aus dem Jahr 2014 zustehen, die er aufgrund seiner Erkrankung nicht in Anspruch nehmen können, diese seien, da der Arbeitgeber seine Hinweis- und Aufforderungsobliegenheit nicht erfüllt habe, nicht verfallen.
 
In der Rechtssache C-727/20 ging es um den Urlaubsanspruch einer Arbeitnehmerin, die seit ihrer Erkrankung im Jahr 2017 arbeitsunfähig war und bis zur Erkrankung ihren Jahresurlaub aus diesem Jahr noch nicht voll genommen hatte. Auch hier hatte der Arbeitgeber sie weder aufgefordert den Urlaub zu nehmen noch darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder des Übertragungszeitraums gem. § 7 Abs. 3 BurlG verfallen kann. Auch sie erhob Klage auf Feststellung, dass ihr deshalb noch (hier noch 14 Tage) Urlaub für 2017 zusteht.
 
In diesen Fällen hat, das Bundesarbeitsgericht (BAG), nachdem die Vorinstanzen die Klage jeweils abgewiesen hatten, den EuGH um Vorabentscheidung folgender Fragen ersucht:
 
„Stehen Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Auslegung einer nationalen Regelung wie § 7 Abs. 3 BurlG entgegen, der zufolge der bisher nicht erfüllte Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub eines Arbeitnehmers, bei dem im Verlauf des Urlaubsjahres aus gesundheitlichen Gründen eine volle Erwerbsminderung eintritt, der den Urlaubs aber vor Beginn seiner Erwerbsminderung im Urlaubsjahr – zumindest teilweise – noch hätte nehmen können, bei ununterbrochen fortbestehender Erwerbsminderung 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres auch in dem Fall erlischt, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht durch entsprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben?“
 
sowie
 
„Ist unter diesen Voraussetzungen bei fortbestehender voller Erwerbsminderung auch ein Verfall zu einem späteren Zeitpunkt ausgeschlossen?“
 
und
 
„Stehen … Richtlinie … und … Charta der Auslegung … entgegen, der zufolge der bisher nicht erfüllte Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub eines im Verlauf des Urlaubsjahres arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmers, der den Urlaub vor Beginn seiner Erkrankung im Urlaubsjahr – zumindest teilweise – noch hätte nehmen können, bei ununterbrochen fortbestehender Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres auch in dem Fall erlischt, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht durch entsprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben?“
 
sowie
 
„Ist unter diesen Voraussetzungen bei fortbestehender Arbeitsunfähigkeit auch ein Verfall zu einem späteren Zeitpunkt ausgeschlossen?“
 
Dem Urteil in der Rechtssache C-120/21 lag der Fall zugrunde, dass der langjährig bis zum 31. Juli 2017 bei seinem Arbeitgeber beschäftigt gewesene Arbeitnehmer nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses Abgeltung des zwischen 2013 und 2016 nicht genommenen Jahresurlaub begehrte. Hier hat das BAG dem EuGH die Frage vorgelegt. Ob die Bestimmungen der Richtlinie und der Charta einer Verjährung des Urlaubsanspruchs nach Ablauf von drei Jahren entgegenstehen, wenn er Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht tatsächlich in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch wahrzunehmen.
 
 
Entscheidungen des EuGH
 
Rechtssachen C-518/20 und C-727/20
 
Der Gerichtshof führt in diesen Entscheidung folgendes aus:
 
Er habe bereits erkannt, dass „in dem besonderen Zusammenhang, in dem der Arbeitnehmer aufgrund krankheitsbedingter Abwesenheit gehindert war, seinen Anspruch auszuüben, dass es nicht mehr dem Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub entsprechen würde, wenn ein Arbeitnehmer, der während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähig ist, berechtigt wäre, unbegrenzt alle während … seiner Abwesenheit von der Arbeit erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub anzusammeln“ und  daher sei bei Vorliegen solcher „besonderer Umstände“ eine Regelung, nach der der Anspruch auf bezahlten Urlaub im Falle einer Ansammlung von Jahresurlaubsansprüchen aufgrund Langzeiterkrankung nach einem Übergangszeitraum von 15 Monaten erlöschen würde, grundsätzlich zulässig.
 
Allerdings stellt der EuGH ausdrücklich klar, dass mit einem automatischen Verlust des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub die Grenze verkannt werde, die von den Mitgliedstaaten zwingend einzuhalten sei, wenn sie die Modalitäten für die Ausübung dieses Anspruchs im Einzelnen festlegen. Insofern könne ein erworbener Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach Ablauf des Bezugszeitraumes und/oder eines im nationalen Recht festgelegten Übertragungszeitraums nicht verfallen, wenn der Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt würde, seinen Urlaub zu nehmen, denn: „Es obliegt dem Arbeitgeber, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auszuüben (…). Insoweit hat, anders als im Fall der Ansammlung von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub durch einen Arbeitnehmer, der aus Krankheitsgründen daran gehindert war, diesen Urlaub zu nehmen, der Arbeitgeber, der einen Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auszuüben, die sich hieraus erbenden Folgen zu tragen (…).“
 
Auch in der Rechtssache C-120/21 hat der EuGH darauf erkannt, dass der Arbeitgeber zwar ein berechtigtes Interesse daran hat, nicht mit Anträgen auf Urlaub oder finanzielle Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub konfrontiert werden zu müssen, die auf mehr als drei Jahre vor Antragstellung erworbene Ansprüche gestützt werden, dieses Interesse indes dann nicht gerechtfertigt ist, wenn der Arbeitgeber sich selbst dadurch, dass er den Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt hat, den Anspruch tatsächlich wahrzunehmen, d. h. ihn auf seinen Anspruch und auf dessen Verfall nicht hingewiesen hat.
 
 
Fazit

Es steht zu erwarten, dass die deutsche Rechtsprechung in den Fällen, in denen der Arbeitgeber seine Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten bislang nicht erfüllt hat, dem EuGH nun folgen und für diese Fälle die Ansammlung von Urlaubsansprüchen über Jahre hinweg bejahen wird.
 
Weiter diskutieren können wird man dann wohl nur noch darüber, ob ein zunächst unterbliebener Hinweis mit Wirkung für die Zukunft nachgeholt werden kann und darüber, ob nach vor Beginn der Dauererkrankung erfüllten Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten, solange der Arbeitnehmer nicht wieder arbeitsfähig wird oder jedenfalls, wenn feststeht, dass er nicht wieder für die vertragliche Arbeit arbeitsfähig werden wird, erneute Hinweise, weil sie in dieser Zeit ins Leere gehen würden, entbehrlich sind.