Montag, 04.05.2020

Arbeitnehmerfreizügigkeit – teilweise Anrechnung einschlägiger Berufserfahrung unionsrechtswidrig

Ein Beitrag von Silke Allerdissen
 
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit Urteil vom 23.04.2020 (Az. C 710/18) entschieden, dass eine nationale Regelung, die eine nur teilweise Anrechnung von Vordienstzeiten, die ein Arbeitnehmer bei einem in einem anderen Mitgliedsstaat ansässigen Arbeitgeber erbracht hat, vorsieht, unionsrechtswidrig ist.
 
Anrechnung von Vordienstzeiten bei einschlägiger Berufserfahrung
 
Eine deutsche Staatsangehörige war 17 Jahre lang als Lehrerin in Frankreich tätig, bevor sie im Jahr 2014 vom Land Niedersachsen als Lehrerin eingestellt wurde. Dem Arbeitsvertrag liegt der Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) zugrunde, der die Einstufung unter Berücksichtigung von einschlägiger Berufserfahrung vorsieht. Das Land Niedersachsen erkannte die von der Arbeitnehmerin erworbene Berufserfahrung als einschlägig im Sinne des TV-L an. Bei der Ermittlung der Stufe, der die Arbeitnehmerin zuzuordnen war, wurden die in Frankreich zurückgelegten Beschäftigungszeiten im Umfang von 3 Jahren angerechnet.
 
Die Arbeitnehmerin klagte gegen diese Einstufung. Sie war der Auffassung, dass die fehlende vollständige Berücksichtigung ihrer in Frankreich erworbenen Berufserfahrung eine Ungleichbehandlung darstelle, die gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung und die Arbeitnehmerfreizügigkeit verstoße.
 
Verletzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit?
 
Nachdem das Landesarbeitsgericht der vom Land Niedersachsen eingelegten Berufung stattgegeben hatte, legte die Klägerin Revision beim Bundesarbeitsgericht ein. Das Bundesarbeitsgericht ersuchte den EuGH in diesem Zusammenhang um Vorabentscheidung dazu, ob die Arbeitnehmerfreizügigkeit der nur teilweisen Anerkennung von Vordienstzeiten entgegensteht.
 
Der EuGH hat festgestellt, dass nach Art. 45 Abs. 1 AEUV die Arbeitnehmerfreizügigkeit verletzt wird, wenn die für die Ermittlung der Höhe des Entgelts eines als Lehrer bei einer Gebietskörperschaft beschäftigten Arbeitnehmers die Vordienstzeiten, die von diesem Arbeitnehmer bei einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen anderen Arbeitgeber zurückgelegt wurden, in einer nationalen Regelung nur teilweise berücksichtigt werden, obwohl die Tätigkeiten gleichwertig sind.
 
Der EuGH stellte fest, dass deutsche Wanderarbeitnehmer, die beabsichtigen eine mehrjährige Tätigkeit in einem anderen Mitgliedsstaat auszuüben, von diesem Vorhaben abgehalten würden. Denn eine Regelung, die nicht sämtliche gleichwertige Vordienstzeiten, die in einem anderen Mitgliedsstaat als dem Herkunftsmitgliedstaat eines Wanderarbeitnehmers zurückgelegt wurden, berücksichtigt, ist nach Auffassung des EuGH geeignet die Arbeitnehmerfreizügigkeit unter Verstoß gegen Art. 45 Abs. 1 AEUV weniger attraktiv zu machen, und stelle damit eine Beeinträchtigung dieser Freiheit dar. Keiner der durch Land Niedersachsen geltend gemachten Rechtfertigungsgründe könne diese Beeinträchtigung rechtfertigen.
 
Arbeitnehmerfreizügigkeit bei Auslegung zu beachten
 
Das BAG wird bei der dort ausstehenden Entscheidung die Feststellungen des EuGH zu beachten haben und wohl berücksichtigen müssen, dass bei der Anerkennung von Vordienstzeiten nicht nur solche bei dem bisherigen Arbeitgeber berücksichtigt werden müssen, sondern auch bei anderen Arbeitgebern erworbene einschlägige Berufserfahrungen. Das gilt auch für länderübergreifende Berufserfahrungen. Es kann danach bei einer Eingruppierung nur noch auf die Frage ankommen, ob erworbene Berufserfahrungen einschlägig sind.